Oped in Falter on the protests in Bosnia: “Aufstand in Bosnien: die Chance der EU”

Die Proteste in Bosnien können die Krise auch vertiefen. Die EU sollte dem Land eine Beitrittsperspektive bieten.

Gastkommentar: Alexandra Stiglmayer

Als sich vergangenen Freitag die Nachrichten über massenweise Proteste in Bosnien und Herzegowina verbreiteten, dachten einige Bosnienkenner: „Na endlich!“. Seit Jahren leidet das Land unter politischer Lähmung und wirtschaftlicher Stagnation, die die Bevölkerung bislang stillschweigend erduldet hat.

Das Ausmaß der bei den Demonstrationen verursachten Zerstörungen machte bald einer gewissen Ernüchterung Platz, aber noch immer ist in vielen Kommentaren von einem „bosnischen Frühling“ und „Weckruf“ die Rede.

Ob die noch immer andauernden und nun friedlichen Demonstrationen ein Aufbruch sein werden, muss sich allerdings noch herausstellen. Sie könnten das Land auch noch tiefer in die Krise führen.

Vieles ist noch ungewiss, aber drei Dinge sind festzuhalten. Erstens: Es handelt sich um keine landesweiten Proteste. Bislang protestieren Bosniaken gegen bosniakische Regierungen auf größtenteils kantonaler Ebene (vier von zehn Kantonsregierungen sind zurückgetreten). Das heißt, es handelt sich um keine multi-ethnische Bewegung, die das Land enger zusammenbringen wird.

Zweitens: Die Proteste haben (bislang) keine ethnischen Konnotationen. Das ist ermutigend. Es geht um Perspektivlosigkeit, Arbeitslosigkeit, Korruption und Vetternwirtschaft. Allerdings sind viele der Forderungen illusionär, und das ist gefährlich.

Es gibt kein Geld, um Sozialleistungen anzuheben. Es ist utopisch zu glauben, dass man die Privatisierung ehemaliger staatseigener Konglomerate rückgängig machen und diese Unternehmen wieder in Betrieb nehmen kann.

Diese Forderung beruht auf dem in Bosnien bei allen Bevölkerungsschichten – sogar bei jungen Leuten – verbreiteten Irrglauben, dass das sozialistische Bosnien der 70er und 80er Jahre eine florierende Wirtschaft mit starken Unternehmen hatte, die erst in der wilden Nachkriegsprivatisierung „vernichtet“ wurden.

Dem ist mitnichten so – schon Anfang der 80er Jahre arbeiteten fast alle dieser Unternehmen mit großen Verlusten. Dann folgten Krieg, Vertreibungen, Zerstörungen. Bevor die Privatisierung begann, waren diese Betriebe bereits bankrott.

Drittens: Bei den Protesten geht es nicht um die bei dem Friedensabkommen von Dayton geschaffene Struktur des Landes, die oft für den politischen Stillstand verantwortlich gemacht wird. Das ist ermutigend, denn tiefgreifende Verfassungsänderungen sind in multi-ethnischen Ländern immer äußerst heikel. Tatsächlich ist weder der Zustand der kantonalen Regierungen noch der Wirtschaft eine Folge von „Dayton“.

Aus all dem muss auch die EU Lehren ziehen. Sie hat ihr Augenmerk auf die Umsetzung des sogenannten Sejdic-Finci-Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus dem Jahre 2009 gerichtet. Diese erfordert eine Verfassungsänderung, würde allerdings am Funktionieren Bosniens kaum etwas ändern.

Dennoch hat die EU die Umsetzung des Urteils sogar zur Bedingung für eine EU-Bewerbung Bosniens gemacht. Trotz hunderter Treffen und des beachtlichen persönlichen Einsatzes von EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle haben es die bosnischen Vertreter nicht geschafft, sich auf eine Lösung zu einigen. Diese Zeit wäre besser zur Lösung von Bosniens wirtschaftlichen und sozialen Problemen verwendet worden.

Was nun? Die EU und europäische Regierungen (auch regionale) sollten sich Bosniens dringend annehmen. Sie müssen vor allem darauf hinwirken, dass weitere Demonstrationen friedlich sind, denn neue Gewalt könnte in Bosnien schnell in inter-ethnische Gewalt umschlagen.

Sie sollten auf allen Ebenen Kontakte suchen und den neuen und alten kantonalen Regierungen technische Hilfe anbieten, um Wirtschaftspolitik zu betreiben und berechtigte Forderungen der Demonstranten zu erfüllen, beispielsweise nach weniger Privilegien für Politiker.

Sie sollten gleichzeitig klar aussprechen, dass eine Rückkehr zur Arbeiterselbstverwaltung des Bosniens der 70er Jahre, wie sie Demonstranten in Tuzla eben erst forderten, eine Utopie ist, dass es kein Geld für höhere Sozialausgaben gibt, und dass der Weg zu mehr Wohlstand hart sein wird.

Gleichzeitig sollte die Europäische Kommission damit beginnen, an den notwendigen Reformen zu arbeiten. Das Beste wäre, Bosnien bald zu erlauben, sich um EU-Mitgliedschaft zu bewerben, da dies eine sofortige tiefere Analyse der Gesetze, Praktiken und Standards nach sich ziehen würde, die Bosniens Probleme konkret offenlegen würde.

In Bosnien selbst ist nicht nur zu hoffen, dass die Demonstrationen friedlich bleiben, sondern dass sich unter den Demonstranten auch Führer herauskristallisieren, die das Vertrauen der Menschen und genug politisches Verständnis haben, um das zu fordern, was notwendig, aber auch möglich ist, und die vielleicht bereit sind, bei den Oktober-Wahlen selbst anzutreten.

Die politische Klasse Bosniens wiederum muss anfangen, ihre Wähler und ihre Sorgen ernst zu nehmen. Sie muss Utopien – wie die einer neuen Verfassung, mit der „alles gut wird“, oder sozialer Wohltaten – verabschieden. Sie muss öffentliche Gelder sorgsamer hüten. Sie muss ihre Privilegien aufgeben. Es wird ein Lernprozess sein, der dauern wird und mündige Bürger erfordert.

Wenn all das passiert, dann können die Demonstrationen einen Neuanfang bedeuten.

 

Die Autorin arbeitet in Brüssel als Senior Analyst für die European Stability Initiatve

 

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